2. Oktober 2010

Strindbergs Kammerfilm

Ich sitze in der ersten Reihe der Berliner Schaubühne. Über der Bühne schwebt eine große Leinwand. Unter ihr ein schwedisches Landhaus. Küche, Flur und Schlafzimmer von außen mit großen Fenstern und offenen Türen. Rechts und links eine Sprecherkabine. Im Flur eine Cellistin. Eine Schiebetür. Sechs Videokameras. Rechts vorn ein Tisch mit Klangutensilien unter einem Mikro. Links vorn ein Tisch für Großaufnahmen. Diverses Equipment. Kabel, Scheinwerfer.

Parallel zum Theaterstück entsteht ein Kinofilm, präzise inszeniert und beeindruckend geschnitten. Alles was man sieht, gibt es mehrfach auf der Bühne: Die echte Figur gießt Wasser in eine Schüssel, das Geräusch dazu kommt von einem Geräuschemacher rechts auf der Bühne, der unter einem Mikro gleichzeitig Wasser in eine Schüssel gießt. Parallel entsteht im linken Teil der Bühne eine Großaufnahme davon, wie die Hände in das Wasser tauchen. Wechselnde Perspektiven laufen auf der Leinwand. Die Stimmen aus dem Off werden in den Sprecherkabinen live erzeugt. Eine Herausforderung an die Suggestionskraft des Zuschauers.
Die Schauspieler springen in ihren Rollen, mal Köchin, mal Kamerafrau, mal Requisite. Alles geschieht mindestens doppelt, zusammengesetzt aus mehreren Ebenen erscheint ein fertiger Film über dem realen Geschehen. Eine grandiose Idee. Inhaltlich sparsam, voller Symbole, komplex umgesetzt.

Und doch wird der so stark beanspruchten Illusionskraft der destruktive Spiegel vorgehalten: Ein gerade nicht aktiver Schauspieler besprüht das Fenster von außen mit einer simplen Wasserflasche. Die Kameraaufnahme zeigt ein regennasses Fenster von innen. Das Cello schafft die feuchte Atmosphäre. Traumwelt und Realismus zugleich. Eine Gratwanderung der Einbildungskraft.

Als die Köchin das Herz zerschneidet, wende ich meinen Blick von der Leinwandgroßaufnahme auf die echte Szene. Aus der Ferne ist es ertragbar. Für das Auge zu nah. Das Ende bleibt versteckt, zwischen den Holzwänden der Landhausküche und den Großaufnahmen des blutigen Stuhls. Zu weit weg und gleichzeitig zu nah für eine eindeutige Wahrnehmung. Die Frage nach der Realität stelle ich lieber gar nicht erst.

»Fräulein Julie«
frei nach August Strindberg
Eine Fassung von Katie Mitchell / Deutsch von Maja Zade
Regie: Katie Mitchell und Leo Warner
an der Schaubühne Berlin