5. Oktober 2009

MinD-Akademie 2009

Letztes Wochenende war ich auf einer Veranstaltung zur Erwachsenenbildung unter der Schirmherrschaft unserer Bundesforschungsministerin. Ziel der Tagung war die interdisziplinäre Analyse und Reflexion von "Freiheit und Grenzen" in Natur, Technik, Kultur, Geist und Gesellschaft.
Kurz gesagt: vier Tage voller Vorträge und Seminare auf hohem Niveau aus verschiedensten Disziplinen. 248 Zuhörer, 56 Referenten, die allesamt mindestens einen Doktortitel besitzen oder zumindest auf dem Weg dahin sind. Im völligen Gegensatz dazu läuft die Veranstaltung recht locker ab: wir duzen uns alle, übernachten in Doppelstockbetten einer Jugendherberge, ernähren uns von Aldi-Lebensmitteln und sitzen in Hausschuhen und dicken Socken im Publikum. Eine äußerst pragmatische, extrem tolerante und befreiende Atmosphäre.

Der erste Vortrag eines Professors für Genetik und Neurobiologie: Die Freiheit der Fliege. Seit 40 Jahren untersucht er das Gehirn der Drosophila. Nahezu liebevoll erzählt er von Versuchen, bei denen die Fliege mithilfe einer Art Minikran in einen Zylinder gehangen wird und jeder Drehversuch der Fliege durch einen wandernden Streifen im Inneren des Zylinders ausgeglichen und damit bloß vorgetäuscht wird. Wie lange dauert es, bis die Fliege wieder auf den Strich zufliegt, wenn man die Richtung der Bewegung vertauscht? Was passiert, wenn man der Fliege den Kopf um 180 Grad dreht, so dass das linke Auge plötzlich das rechte ist? Ersteres schafft sie in wenigen Minuten auszugleichen, der Kopfdreh endet in absoluter Bewegungsunfähigkeit. Mehr dazu.

Der zweite Vortrag behandelt Physik und Materie an der Grenze des Vorstellbaren. Ein ehemaliger Forscher am CERN erklärt uns den Teilchenbeschleiniger in Genf. Was soll das Ganze und wie funktioniert das? Was sind Quarks? Und was hat es mit der Anti-Materie auf sich?

Weiter geht es mit einem Jurist und Soziologie-Prof, der im Alter von 69 Jahren versucht, sein Buchwissen um relevante Erfahrungen zu bereichern. Dafür besuchte er hohe Gipfel, lernte ein Iglu zu bauen, durchquerte zu Fuß die Wüste Gobi, unterwarf sich den Ritualen der Schamanen am Amazonas und vertiefte sich in die spirituellen Wege Indiens. Er legt uns den Kanon der kostenlosen Körperkünste für die Knechte der Konsumgesellschaft nahe und erzählt unter Tränen von seinen eigenen Erfahrungen beim Fasten, Schweigen und Meditieren an den Grenzen des Bewusstseins.

Dann ein Feldforscher zum Thema Kulturanthropologie, zur Zeit in Thailand, Laos und Kambodscha unterwegs.

Zur Paradoxie der Willensfreiheit im erotischen Kontext gibt es viel Gesprächsbedarf: Wie kann ich wollen, dass ich will, dass du mir etwas tust, was ich eigentlich nicht will? Wenn man seinen freien Willen aufgibt, hat man ihn dann überhaupt aufgehoben?

Prokrastination ist ein heiß begehrtes Thema, leiden wir doch fast alle unter dem Phänomen der Aufschieberitis. Warum ist das Glücksgefühl größer, wenn man eine Aufgabe auf den letzen Drücker erfüllt, als wenn man sie in aller Ruhe rechtzeitig fertigstellt? Ich empfehle mein Lieblingssachbuch: "Dinge geregelt kriegen (ohne einen Funken Selbstdisziplin)"

Das Abendprogramm ist kulturell geprägt: ein spontaner Chor bildet sich, ein neues Brettspiel wird erfunden, Grenzen körperlicher Nähe werden getestet, Bondage erlernt, zaubern, fotografieren, Improtheater. Ich lerne argentinischen Tango!

Am nächsten Morgen stehen Grenzen der Datensicherheit im Mittelpunkt. Ein Psychologe beleuchtet die Faktoren, die unsere Risikowahrnehmung beeinflussen. Risiko ist immer eine subjektive Einschätzung, die unser Sicherheitsgefühl beeinträchtigt. Bestes Beispiel: Nebelwerfer um Atomkraftwerke geben uns ein Schutzgefühl, obwohl es Flugzeugen mit GPS herzlich egal ist, ob der Pilot etwas sehen kann oder nicht. 400 Polizisten beschützen die Oktoberfestbesucher. Sie wären sonst nicht gekommen, auch wenn noch so viele Polizisten im Falle eines Falles auch nichts tun könnten. Kurz gesagt: ein einziges Security-Theater.

Anschließend ein Vortrag über IT-Sicherheit und Privatsphäre im Internet. Was der Referent anhand von unzähligen Beispielen berichtet, ist erschreckend. Wer in dieses Thema ein bisschen tiefer einsteigen möchte: siehe fatal-attraction.net oder auch panopti.com. Ich möchte und kann diese Thematik nicht ausreichend beurteilen, aber zumindest etwas Bewusstsein dafür schaffen.

Passend zum Thema spricht danach ein Vertreter der Piraten-Partei. Wir haben ihn eingeladen uns etwas über das Zusammenspiel von Freiheit, Demokratie und Sicherheit zu erzählen. Rhetorisch völlig unausgebildet, dafür voller Gedankengänge und Ansätze, die nicht von der Hand zu weisen sind. Die Piratenseite kann man durchaus mal anschauen.

Themawechsel: Evolutionäre Religionswissenschaft. Naturwissenschaftliche Studien zum Glauben glauben herausgefunden zu haben, dass religiöse Menschen länger leben. Heißt das im Umkehrschluss ein Gottesdienstbesuch wirkt besser als Medikamente? Was hier wirklich kausal zusammenhängt, ist unklar, aber es gibt eindeutig Korrelationen. Der Bericht.

Dann etwas Nahegehendes: Die Flucht aus der DDR über die verlängerte Mauer. Das Publikum ist gemischter Herkunft bezüglich Ost/West, immer wieder sehe ich staunende Gesichter bei den Fallbeispielen. Unglaublich, dass das alles erst 20 Jahre her sein soll und so wenig thematisiert wird. Ein Anfang.

Es wird noch schlimmer: Grenzen der Freiheit - Leben in Saudi-Arabien. Ein Unternehmensberater erzählt aus seiner Zeit in einem Land, für das unverheiratete Frauen unter 40 kein Visum bekommen. Ich muss nachlesen in: Die Girls von Riad.

Mein Kopf brummt, ich bin verstört, unsortiert. Zu viel Input. Zu berührende Themen. Ich möchte mich ausdrücken und weiß nicht, wo ich beginnen soll. Die Gedanken überschlagen sich. Ich betäube mein Gehirn mit Rotwein, mein Gefühl mit Gruppenkuscheln. Plötzlich kitzelt mich ein Mädchen, sie spricht mich an. Sie hat eine Männerstimme. Dazu lackierte Fingernägel, Mädchensachen, lange Haare, geschminkte Lippen. Auf der Brust steht ein Jungsname, keine weibliche Rundung ist zu sehen. Ich bin restlos verwirrt. Wir schlafen zu zwanzigst in einem verknoteten Menschenhaufen im Foyer. Ganze zwei Stunden lang. Es beruhigt ungemein.

Am Sonntag naht der Abschied. Noch ein Vortrag über Hirnforschung, Willensfreiheit und Schuldstrafrecht. Dann noch was zum Dialog der Kulturen, eine enthusiastische Rede einer beeindruckenden Persönlichkeit.

Halb fünf steige ich in den Zug, halb zehn bin ich daheim. Schlafen ist jetzt wohl das Einzige was hilft. Gute Nacht und bis nächstes Jahr!