20. September 2008

Nachholbedarf

Ich komme mir vor, als wäre ich ein halbes Jahr lang sozial isoliert gewesen. Ich war ewig nicht mehr im Kino, auf fast keiner Party und auch nur selten irgendwo draußen, mal abgesehen von Lidlbesuchen. (Ich habe mich vor lauter Kontaktmangel sogar schon mit dem obdachlosen Zeitungsverkäufer vorm Supermarkt angefreundet.)
Gestern Abend verspürte ich das Bedürfnis, mich unter Menschen zu begeben. Ich klappte das Lernzeug, was seit Tagen ungelesen neben mir liegt, zu und fuhr mit der Straßenbahn zu den Hackeschen Höfen. Als erstes wunderte ich mich über die neue Kleiderordnung für Freitag Nacht. Minirock und Stiefel war mir ja bekannt, aber Plateaustiefel? Von allen Mädchen getragen, die da gruppenweise am Straßenrand standen. Alle in weiß oder rot, teilweise zum Schnüren bis über die Knie. Hab ich da wieder mal einen Trend verpasst?
Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich staune über meine eigene Naivität: Das sind keine Mädchen, die nur zum Spaß hier rumstehen. "Na, wieviel biste denn bereit auszugeben?" grinst eine Stiefelfrau einen vorbeischlendernden Mann an. Huch, das ist ja ziemlich direkt. Ein paar Schritte weiter: "Na, willst du mal kurz stehenbleiben?" Die Frage gefällt mir schon besser. So schön dezent an ein Grundbedürfnis erinnert, fing ich an, den vorbeigehenden Männern in die Augen zu schauen. Zu meinem Erstaunen ist das für viele (vornehmlich die Nicht-Deutschen) ein Anlass, mich sofort anzusprechen. Ich bin überrascht von der Direktheit und gehe schweigend weiter. Ein Türsteher drückt mir einen Zettel in die Hand und sagt: "Na, Lust auf einen Frustdrink?" Hab ich irgendwas verpasst? Bin ich etwa gefrustet?
Nein, nur überfordert von den Spielregeln der nächtlichen Kommunikation zwischen geschlechtsreifen Großstädtern. Ich hab verdammt viel nachzuholen!