Die Reise zu den Schrumpfkopfjaegern

Ein Kind ist dabei, ein suesser siebenjaehriger Lockenkopf. Mich fasziniert seine Sprachkompetenz: Papa spricht deutsch zu ihm, Mama persisch. Er antwortet englisch. Mit meinen Kollegen spricht er malay. Er wohnt in Kuala Lumpur, bald in Singapur. Hat er jetzt schon vier Sprachzentren im Kopf oder wie funktioniert das????
Um zehn fahr ich heim, packe schnell einen halben Rucksack voll, gehe zu Mustafa und kaufe Ketten, Ohrringe, Haargummis und Seife fuer die Maedchen und kleine Lampen fuer die Jungs. Marion (meine Reisebegleitung, 21 aus der Schweiz (hat aber schon mehrere Jahre in China, Tschechien und Deutschland gelebt)) kommt, wir gehen zum Bus und ab zur Grenze. Wir waehlen den Expressbus, es dauert eine Stunde inklusive Grenzuebergang und kostet 2.40 S$. In Johor Bahru brauchen wir ein Taxi zum Flughafen. Ich werde Zeuge einer perfekten Verhandlung von Marion mit drei Taxifahrern. Wow! Sie kann das super. Ich versuche mir die Taktik zu merken.
Am leeren Sultan Ismail International Airport angekommen, scheint das Gebaeude schon geschlossen zu sein. Ich freunde mich mit dem Gedanken an, auf der Strasse zu schlafen, frieren kann man ja eh nicht. Dann gibt es doch noch eine offene Tuer und wir entdecken Viererbaenke ohne Armlehnen, ein super Schlafplatz! Rucksack unter den Kopf, Pass und Geld in die Hosentaschen, Kreditkarte in die Unterhose und gute Nacht. Nach drei Stunden Schlaf geht um fuenf das Licht und die Klimaanlage (laut!) an, die ersten Passagiere kommen und erfreuen sich an unserem Anblick. Zaehneputzen, Fruehstuecken, Check In, Abheben, Schlafen, Landen, Aussteigen. Der Kuching International Airport, genannt Lapangan Terbang Antarabangsa Kuching ist ein kleiner Flughafen, innen voll glaenzender Laeden mit Parfum, rosa Pelzmuetzen usw. Wusste gar nicht, dass man sowas auf Borneo braucht. Der Immigration-Prozess dauert eine Weile, weil wir quasi in ein neues Land einreisen. Wir kommen zwar aus Malaysia, aber der westliche des malayischen Teils auf Borneo, genannt Sarawak, moechte unabhaenig sein, also alles nochmal ausfuellen und stempeln. Endlich am Ausgang steht tatsaechlich jemand mit einem Zettel mit unseren Namen drauf. Er heisst Augustus Paul, ist ca. 30, spricht gutes Englisch und traegt ein tuerkisfarbenes T-Shirt mit der hellgruenen Aufschrift Borneo Fairyland Travel - wir sehen uns schon wie Feen durch den Dschungel huepfen :-)
Er bringt uns zu unserem Fahrzeug: nein, kein Bus, eine dunkelblaue Limousine mit Klimaanlage! So faehrt es sich ganz angenehm :-) Es geht gleich zum Semenggoh Orang Utan Wildlife Rehabilitation Centre, denn um neun ist Fuetterung.
Weiter geht die Fahrt auf sehr gut ausgebauten Strassen vorbei an Steinhaeusern, es sind kaum Menschen auf der Strasse, es ist recht sauber - Borneo ist ganz anders als Sumatra. Der Himmel ist strahlend blau und die Wolken bilden lustige Formen. Wir halten an einem Markt und trinken Eiskaffe, essen Kokosbaellchen und gebackene Bananenscheiben - alles zusammen fuer 75 cent. Auf dem Markt gibt es Riesenschnecken, Muscheln, Seegurken, unbekanntes Gemuese, Obst, Gewuerze und und und ... Paul erklaert uns alles und laesst uns immer wieder kosten, bittere Schlangenhautfruechte und kleine runde Kugeln, die so glitschig sind wie Litschi aber furchtbar sauer. Er will noch Fleisch fuer unser Abendessen kaufen, ob wir Vegetarier seien? Nein. Ich frage mich allerdings, wo er auf einem Markt wie diesem bei 36 Grad Mittagshitze frisches Fleisch bekommen will. Dann sehe ich es: Schildkroeten. Lebendige! Eine grosse und zwei kleine. Er wird doch nicht ... Doch. Er kauft sie tatsaechlich. Wir sagen ihm, dass wir das nicht essen wollen, aber er steckt sie in eine schwarze Plastiktuete und geht zurueck zum Auto. Zwei alte Maenner erzaehlen Marion Geschichten von einem deutschen Priester zu Kriegszeiten, die Kinder winken mir zu. Zurueck im Auto reden wir auf Paul ein, dass er das nicht machen kann, Schildkroeten seien unsere Lieblingstiere usw. Er schweigt. Wir ueberlegen lange, wie wir die Tiere retten koennen. Irgendwann fragt er dann, ob wir wissen wollen, warum er sie gekauft hat. Ja, das fragen wir doch die ganze Zeit! Er moechte nicht, dass jemand anderes sie kauft und isst. Er wird sie in seinem Garten freilassen, da gibt es schon zehn andere. Puh. Paul ist doch ein guter Mensch. Wir nehmen die Tiere aus der Tuete und lassen sie durchs Auto krabbeln. Eine hat so grossen Druck, dass sie Marion aufs Bein pinkelt und auch noch kleine stinkende Kuegelchen fallen laesst. Ich bekomme einen Lachanfall und Marion Wasser zum Auswaschen ihrer einzigen Hose :-) Mittagessen gibt es in einem Foodcourt in Serian. Hier leben die, die dem Dschungel den Ruecken gekehrt haben. Sie betreiben Landwirtschaft und verkaufen ihre Waren auf einem Markt aus bloßem Beton, es gibt von Schlangenfleisch bis zu Macheten alles, fuer uns Reis, Spinat, Bambus und Huehnchen in Scheiben. So geschnitten, dass es mich an Gunther von Hagens Koerperweltenausstellung erinnert: Das Huehnchen ist nicht ausgenommen, die Organe und Knochen sieht man im Querschnitt neben spaerlichem Fleisch. Auf dem Verdauungsspaziergang kaufen wir noch einen Beutel Durianchips in 40 Tuetchen verpackt und eine Stange Zigaretten. Moralisch bedenklich, aber von den Iban erwartet.
Den Rest der 250 km langen Fahrt fragen wir Paul aus. Er erklaert uns die Verteilung der Iban auf der Insel. (Nein, Iban meint hier nicht die International Bank Account Number, sondern einen Stamm der Dayak, der Ureinwohner Borneos. Die Hollaender unterschieden die See-Dayak (Iban) und die Land-Dayak (Bidayuh). Paul gehoert zu den Bidayuh, frueher die schlimmsten Feinde der Iban.) Die Geschichte mit dem Sultanat Brunei. Die neue Unabhaenigkeit. Was die Leute hier so essen. Ja, sie essen Schlangen. Und sie essen Wuermer. Entweder im Ganzen gebraten oder in Scheiben geschnitten und in Durian gebacken. Oder roh, gehaechselt und mit Honig betraeufelt. Das ist seine Lieblingsspeise. Auch das suessliche Fleisch des Monitor-Lizards ist bei den Iban als Delikatesse begehrt. Damit mir noch uebler wird, frage ich nach den Schrumpfkoepfen. Er erklaert die Prozedur: Wenn man den Feind besiegt hat, bringt man als Trophaee seinen abgeschnittenen Kopf mit nach Hause. Auf dem Weg tropft das Blut ab, dann kommt er in einen Korb aus Rattan und wird fuer zwei Wochen in den Fluss gehangen, damit die Fische die Bakterien erledigen. Dann wird er geraeuchert, damit er haltbar bleibt. Abschliessend wird der Mund zugenaeht, damit die Seele nicht entweichen kann.
Wir erreichen eine Anlegestelle mit mehreren Langbooten, durch die Baeume sieht man das Langhaus. Ein wirklich langes Holzhaus auf Stelzen, direkt daneben ein etwas kleineres, das ist unser Gaestehaus. Eine Huehnerstiege, gefertigt aus einem schmalen Baumstamm mit Kerben, fuehrt hinauf. Auf der Veranda stehen drei grosse Tische fuer 60 Leute, wir drei sind die einzigen. Zwei Katzen kommen uns entgegen und schleichen von nun an staendig um unsere Beine. Es gibt eine Kueche und sogar Duschen und Toiletten. Der Schlafraum ist ein langer Flur, links und rechts durch Bretterwaende abgetrennt liegen durchgelegene Winnie-Pooh-Matratzen. Eine halbblinde Frau macht einen Schlafplatz daraus, indem sie Bettlaken, Kissen und ein loechriges Moskitonetz anbringt. Wir trinken derweil einen Begruessungstee aus verfaerbten Plastiktassen, umringt von tausenden Ameisen. Die Schildkroeten uebernachten in der Dusche, gemeinsam mit unzaehligen grossen Kaefern, Kakerlaken, Ameisen, Spinnen usw.
Ein halbdunkler Korridor liegt vor uns, ein 100 Meter langer Raum (Ruai), Mittelpunkt der Langhausgemeinschaft. Geschuetzt vor Ueberschwemmungen und Urwaldgetier wird hier gearbeitet, gebetet, gerichtet, gefeiert. Die Waende sind aus Schilf, verziert mit Bastmustern. Ein Wellblechdach schuetzt vor Regen, Wind und Sonne. Eine junge Frau stillt gerade ihr Baby, ein Stueck weiter liegt ein alter Mann auf dem Boden. Von draussen toenen Stimmen, durch die Oeffnungen in der linken Wand leuchtet die Veranda (Tanju), hier trocknet Waesche, Reis und Gummi, gerade werden Bastmatten unter den Familien versteigert. Alle Frauen tragen einen Sarong, ein Tuch, das oben zugeknotet wird. Die Männer moderne Shirts und Shorts oder einfach nur ein Handtuch um die Hueften.
Auf der flussabgewandten Seiten reihen sich 24 Tueren mit individuellen Markierungen und Symbolen aneinander. Dahinter 24 Schlafraeume (Bilek) fuer 100 Menschen. Ueber uns ein Speicher voller Geruempel und Fledermaeuse, frueher schliefen hier die Maedchen, getrennt von den Jungen auf dem Flur. Nur Verheiratete bekamen ein Zimmer fuer sich und ihr Baby. Laut Paul teilt man hier alles, ausser den Ehepartner, die Zahnbuerste und die Unterwaesche.
Wir sind beeindruckt von der Atmosphaere und zugleich irritiert von den Bewohnern. Die ersten ignorieren uns, in mir kommen Zweifel am "Tourismus" auf. Sind wir Segen oder Fluch? Angeblich sagt man sich hier nicht Hallo und auch nicht Danke. Höchstens "Wie geht es?" und "Das wäre doch nicht nötig gewesen." Vielleicht liegt es daran.
Ein kleiner, alter Mann mit freiem Oberkoerper kommt auf uns zu, er ist ueber und ueber mit Taetowierungen bedeckt und traegt nichts als gelbe Shorts. Seine Ohrloecher haben einen Durchmesser von einem Zentimeter. Er umarmt Paul, begruesst uns freundlich mit umschlungenem Handschlag, fragt wo wir herkommen, bestaunt unsere weisse Haut. Ob wir ein Foto von ihm machen wollen. Klar, wir sind schliesslich Touristen. Er setzt sich ins Licht, laechelt und laesst sich geduldig fotografieren.
Der Haeuptling kommt dazu und gibt Marion ein Kuesschen auf die Wange. Fast zumindest, er schnuppert an ihr, sie rieche so gut. Paul erklaert wo wir herkommen. Deutschland ist durch den Krieg bekannt. Wir duerfen seine Privatraeume in der Mitte des Hauses anschauen. Es ist mehr als einer, im Vordersten stehen Sofas und Kleiderschränke. Die Waende sind mit Fotos und Starpostern geschmueckt. In einer Ecke haengen Jesusbilder. Irgendwann wurden die Iban zum Christentum bekehrt. Eigentlich waren und praktizieren sie noch wie Animisten, das heisst, sie glauben, dass alles, von Steinen ueber Pflanzen und Tiere eine Seele hat. (Dem Philosophen aus Freuds Totem und Tabu bekannt.) Paul zeigt uns Fotos vom Stammeshaeuptling aus den Fünfzigern und Achtzigern in Kriegsbemalung. Wir bestaunen den Kopfschmuck aus langen Vogelfedern und die ebenso vom Vater vererbte Machete. Die Scheide ist mit echtem Haar des Feindes verziert. Der Schutzschild hängt auch an der Wand, die Rückseite von Termiten zerfressen.
Dann entdecke ich endlich das lang ersehnte Objekt. Mitten vor der Eingangstür baumeln sie, Anlass und Ziel dieser Reise: die Schrumpfköpfe. Drei schwarze Klumpen voller Spinnenweben in Korbkugeln hängen von der Decke. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich die Schaedel.
Mittlerweile hat sich eine Gruppe im Kreis versammelt, sie sitzen auf dem Boden, die Männer auf der einen Seite, die Frauen auf der anderen. Diesmal ist auch die Dorfälteste dabei, eine Frau mit weißem Haar, nackter Brust und schwarzem Sarong um die Hüften. Das ist die traditionelle Kleidung. Sie hat eine Colaflasche mit Reiswein in der Hand. Wir setzen uns dazu und bekommen einen Tee gereicht und ein Glas Reiswein. Es gibt für alle zusammen nur ein einzelnes Glas, das ist so Tradition. Sie fragen uns wieder, wo wir herkommen, berühren unsere Arme, die Kinder starren uns an. Es sind fünf Generationen versammelt, sie lachen, schreien, reden. Paul möchte, dass wir später wiederkommen. Er wird für uns kochen. In der Zwischenzeit versuchen wir zu duschen, was nackt zwischen all dem Getier eine echte Herausforderung ist. Ich hänge meine nassen Sachen auf mein Moskitonetz, in der Illusion, dass sie bei 28° und 95% Luftfeuchte trocknen könnten.
Paul erweist sich nicht nur als hervorragender Fahrer, Guide und Dolmetscher, sondern auch als Spitzenkoch. Er zaubert in einem einzigen Wok Hühnchen mit Ananas in Tomatensauce, grüne Bohnen, gekochte Gurken, süßen Spinat mit Ei und Reis. Zum Nachtisch gibt es saftige Ananas, bevor die Ameisen sie befallen. Die Katzen essen mit am Tisch, von Papptellern. Dann gehen wir wieder ins Langhaus, unsere Geschenke abliefern. Wir geben sie dem Oberhaupt und sogleich wird gerecht geteilt. 24 Häufchen mit je einer Tüte Chips, sieben einzelnen Zigaretten, einem Haargummi, zwei Haarspangen, ein Stück Seife. Die Lampen und die Ketten reichen nicht für alle. Eine Kette geben wir der alten Dame, die Ohrringe ihrer Tochter. Sie möchte, dass ich sie ihr anlege. Leider sind ihre Ohrlöcher nicht geweitet, eher schon zugewachsen. Ich mache ihr deutlich, dass das nicht geht, aber sie besteht darauf. Ich muss sie durchstechen. Sie zuckt nur leicht mit den Mundwinkeln. Dann lacht sie und klopft mir auf die Schulter. Den anderen Mädchen versprechen wir, weiteren Schmuck zu schicken. Zusammen mit den Fotos.
Etwas unsicher wie der Abend weitergeht, setzen wir uns auf den Boden, stets die Beine nach hinten, beleuchtet von Neonröhren an der Decke. Schon bekommen wir ein Glas Tuak (Reiswein) und plötzlich stehen zwei Krieger vor uns. Junge Männer mit Lendenschurz und bestickter Weste, den Speer in der Hand, Federschmuck auf dem Kopf. Der Tanz! Ich hatte ihn nicht mehr erwartet. Zwei Frauen mit klapperndem Silberschmuck kommen dazu. Trommeln und Gongs werden geschlagen. Sie verbeugen sich vor uns und schupsen sich gegenseitig auf die Tanzfläche. Sie vollführen einen Kriegstanz oder den Tanz des Hornbillvogels. Mir ist unbehaglich, bei diesem Anblick der Rituale, die nur noch Folklore sind, inmitten von Colaflaschen und Plastiktüten. Es ist alles nichts als Show für uns Touristen. Die Wilden bieten uns die gewünschte Illusion, kassieren vom Reiseveranstalter und schlüpfen wieder in ihre gewohnten Rollen. Doch bevor das Schuldgefühl in mir erwachen kann, fordern sie uns zum Mittanzen auf. Es gibt kein Entkommen, runter mit dem Reiswein und rein in den Kreis. Der Wein wirkt schnell, es macht großen Spaß wie die Indianer zu Trommelmusik herumzuhüpfen und dabei Huuha-Laute von sich zu geben. Man sollte nur aufpassen, dabei nicht auf eine der Kakerlaken zu treten, die hier überall am Boden langflitzen.
Beim nächsten Spiel, eine Art Gummihopse, nur dass die Gummis Bambusstäbe sind, die ganz schnell aneinandergeschlagen werden, streiken wir. Geht nicht mehr. Ob wir Reiswhisky probieren möchten. Nein, lieber nicht, wir hätten eine ganze Flasche leeren müssen (man muss immer leer machen, was man bekommt) und neben uns lagen schon die ersten Schnapsleichen. Es ist Wochenende, denke ich, da machen wir das zu Hause auch. Gehen aus und betrinken uns. Die bleiben eben hier und betrinken sich. Dementsprechend laut und lustig geht es weiter, wir beantworten zum dreißigsten Mal die Frage, wo wir herkommen. “Germany and Switzerland” “Ah, London” “No no, Germany, Switzerland.” “Yes, London!”Hm. “Are you married?” “Sure!”
Um dem Touristenfeeling die Krone aufzusetzen, bekommen wir Waren zum Kauf angeboten. Schnitzereien, Deckchen, Masken, Schmuck, Pfeffer. Sehr teuer und definitiv nicht von hier handgemacht. Paul rät uns, diese Dinge morgen auf dem Markt zu kaufen. Sei genau der gleiche Billigimport aus China. Dieses Wissen trübt die Erfahrung, aber dennoch geht uns das alles hier sehr nahe. Wir versuchen uns bewusst zu werden, wo wir sind und was hier stattfindet.
Das Licht geht aus, es muss halb elf sein. Ein Gewitter sorgt für die passende Stimmung. Wir gehen schnell in unser Haus, springen dank Taschenlampe über eine Straße Feuerameisen und verjagen die Katzen aus den Betten. Mein Bettlaken ist voller Ameisen. Nicht etwa die kleinen schwarzen, sondern große rote. Nein, das geht zu eindeutig zu weit. Daran habe ich mich noch nicht gewöhnt! Ich nehme Moskitospray und sammle die toten Tiere vom Bett. Aber der Zustrom reißt nicht ab. Ich sprühe eine große Wolke, so dass ich einen Hustenanfall bekomme. Was soll’s, ich lege meinen Kopf auf die weniger belebte Seite, wickle mich ins Laken ein und mache das Licht aus. So kann ich sie nicht mehr sehen und mich voll auf’s Gewitter konzentrieren. Ich reguliere meinen Atem und schlafe tatsächlich ein.
Noch vor dem Morgengrauen beginnt das Konzert der Haehne. Es gibt mindestens 50 auf dem Gelaende, jeder in einem einzelnen Kaefig, sonst wuerden sie sich gegenseitig umbringen. Es sind Kampfhaehne. Ich will aber gar nicht aufstehen, es ist noch dunkel, also vor 6 und Fruehstueck gibt's erst um 8. Den Katzen allerdings ist das egal, sie setzen sich neben meinen Kopf und jammern so erbaermlich, dass ich weich werde. Ich geben ihnen die ersehnte Zuwendung, ziehe meine feuchten Sachen an und gehe raus. Die Luft ist angenehm kuehl, nur 28 Grad. Die Sonne kommt langsam hinter den Baeumen und Palmen hervor und taucht das Langhaus und den Himmel in ein wunderbares Licht. Ich erinnere mich an Spaziergaenge mit Papa, frueh morgens irgendwo in einem Bergdorf am Bach. Es ist ganz still, ich glaube alleine unterwegs zu sein. Aber ich taeusche mich, zwischen den Straeuchern hocken Maenner mit Handtuch um die Hueften und pfluecken Fruechte, jemand fuettert geraeuschlos die Huehner, einer anderer oelt sein Moped. Die Frauen gehen in Grueppchen in Richtung Markt. Zwei Jungs fahren mit dem Boot los. Broetchen holen, denke ich, haha. Auf dem Weg zum Fluss stolpere ich ueber einen kleinen Eimer, in ihm steckt eine Zahnbuerste und ein Seegurkenschwamm. Bevor ich weitere Entdeckungen machen kann, kommt ein Jagdhund auf mich zu, knurrt boese und faengt laut an zu bellen. Jemand ruft seinen Namen, aber keiner pfeift ihn zurueck, ich bekomm Panik, halte die Arme fest am Koerper und gehe schnurstracks zurueck in mein Revier. Es gibt Fruehstueck in den ersten Sonnenstrahlen auf der Terasse. Paul verwoehnt uns erneut mit seinen Kochkuensten. Es gibt Knoblauchbrot aus der Pfanne, Bohnen in Tomatensosse, Wuerstchen und panierte Bananenscheiben. "Wenn meine Gaeste gluecklich sind, bin ich es auch." Er verbringt nahezu jedes Wochenende hier, sein Nachtleben leidet darunter, er geht unter der Woche hoechstens mal ins Kino. Aber das ist ihm egal. Er mag die Tiere hier und die Natur.
Frisch gestaerkt und mit Moskitospray umhuellt, machen wir uns auf zur Dschungelwanderung. Sie beginnt mit einem traditionellen Hahnenkampf. Zwei Maenner haben je einen Hahn unter den Arm geklemmt, deren Anblick allein schon furchterregend ist. Ihnen wird der Kamm gestutzt und um die Krallen haben sie eigentlich ein spitzes Messer gebunden, mit dem sie ihren Gegner erstechen bzw. aufschneiden. Das ist doch jetzt wirklich nicht noetig, oder? Paul kuendigt uns eine neue Erfahrung an, die wir nicht machen wollen. Die beiden Herren kneten derweil die Muskeln der Haehne und streichen eher pragmatisch als liebevoll ueber ihre Koerper. Sie gehen in die Knie und lassen ohne Vorwarnung die wuetenden Tiere aufeinander los. Sie plustern sich auf, hacken aufeinander ein, die Federn fliegen wild umher. Nach nichtmal einer Minute nehmen sie die Kampfhaehne wieder zurueck, fast waere es fuer einen zu Ende gewesen! Dieser Sport hat eine grosse Bedeutung, am meisten wegen der Wetten, die abgeschlossen werden. Auf diesen Hahn stehen 1000 Ringgit, das sind 200 Euro und fuer die Iban eine bedeutende Summe.
Naechste Station: Giftpfeil schiessen. Wir bekommen einen langen Speer, der gleichzeitig Blasrohr ist, in die Hand gedrueckt. Es dauert Tage, bis man so etwas hergestellt hat, das ist kein Bambus, sondern Hartholz, das Loch wird nach und nach mit Wasser geweicht und dann Stueck fuer Stueck ausgehoehlt. Ein kleiner Pfeil kommt in das Mundstueck, ansetzen, reinpusten und schon fliegt er in rasanter Geschwindigkeit auf unser Ziel: eine Papaya. Von sechs Versuchen treffe ich sogar einen :-) Vorsicht allerdings beim Ansetzen der Lippen, denn der Pfeil ist mit Gift getraenkt. Zielt man auf Menschen, dann taucht man ihn vorher in Schlangen- oder Froschgift. Moechte man Tiere zum Essen jagen, so nimmt man Pflanzengift, was den Herzmuskel laehmt und das Tier auf den Boden fallen laesst. Dann muss es nur noch erstochen werden, dazu hat man die Speerspitze gleich mit dran. Wie praktisch, so ein "Silent Killer".
Weiter geht's zum Gummibaum. Mit einem speziellen Schaber kratzt man ein Stueck Rinde ab und sofort tropft weisser Leim herab. Der muss dann nur noch in einem Kasten getrocknet werden und schon hat man eine Gummimatte. Daneben ist der Bootsbauplatz. Paul erklaert, aus welchem Holz welcher Teil gefertigt wird, der Boden zum Beispiel aus den Propellerbaeumen. Ich beobachte eine Frau, die im Sarong durch den Fluss watet. Schatten, ich brauche Schatten. Die Sonne brennt unertraeglich. Endlich gehen wir unter das schuetzende Blaetterdach, vorbei an einer alten Opferstelle fuer die Waldgoetter. Zigarettenstummel liegen herum, Paul und Marion zuenden auch eine an und lassen sie fuer die Goetter vergluehen. Immer wieder zeigt er uns bestimmte Pflanzen und Blaetter, die praktische oder heilende Wirkung haben. Ein Sandpapierblatt zum Beispiel. Oder Rattan. Wenn man ein bestimmtes Blatt zerpflueckt, mit dem eigenem Speichel vermischt und auf die Wunde presst, stoppt das Blutungen und vieles mehr. Immer wieder betont er, wie wichtig der Dschungel fuer die Iban ist und was man alles aus ihm herausholen und herstellen kann. Neben dem Pfad liegen von Gestruepp ueberwachsene Tonkruege und Steinscherben. Waeren wir einige Jahre frueher gekommen, haette es den Reiswein aus ihnen und nicht aus Colaflaschen gegeben. Winzige Blechhuetten stehen im Kreis auf einer Lichtung. Es sind Familiengraeber. Frueher, bevor alle in Einzelgraeber auf dem christlichen Friedhof beerdigt wurden, kamen hier die Familien zusammen unter die Erde. Gemeinsam mit ihren Lieblingsgegenstaenden. Schmuck, Geschirr, Spielzeug. Die Tonkruege wurden allerdings leicht beschaedigt, damit gierige Nachkommen gar nicht erst in die Versuchung kamen, diese zu verkaufen. Weiter ging es auf dem Dschungelpfad, an der Spitze ein tapferer Krieger, der mit seiner Machete den Weg frei schlaegt. Er nimmt Krabbeltiere auf seine Hand, klappt Termitenstoecke auf, schaerft unsere Ohren und Augen fuer die Seelen des Dschungels. Mir ist etwas mulmig, ich habe keine geschlossenen Schuhe an und man ahnt ja nur ansatzweise, was hier noch so alles lauert. So kommt es denn auch wie erwartet: Ein riesengrosser Tausendfuesser blockiert den Weg.
Unsere Fotos
Marions Video
Ein hochinteressanter Reisebericht von 1999 von zwei Oesterreichern, die etwas tiefer eingedrungen sind.
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