13. April 2007

Das Diktat der Saubermänner

Mal zur Abwechslung ein Artikel aus einem GEO-Special ueber Singapur. Recht lang, aber es ist Freitag Nachmittag und es lohnt sich:

"Vier lange, schnelle Rolltreppen führen in der U-Bahn Raffles City in die Tiefe. Der Einstieg ist von einem Mäuerchen aus dunkelrotem Mamor umfaßt. Da saßen sie immer: Jugendliche, die auf Freunde warteten, nach der Schule klönten oder einfach die kühle Luft der exzellenten Klimaanlage im Untergrund genossen. Sie tranken nicht und rauchten nicht, aßen nicht, kauten kein Kaugummi, hörten keine Musik, fuhren nicht Skateboard, spuckten nicht, brachten keine Hunde; Katzen, nichts Lebendes mit. Denn all das ist verboten. Sie saßen nur da. Und nun ist auch das verboten. Eine neues Schild kam zu den Abertausenden Schildern, die den Singapurern auf Schritt und Tritt sagen, was zu tun, und vor allem, was zu lassen ist. Die Schilder sind bewehrt mit zahlosen Augen unformierter Staatsdiener, die prompt und unbestechlich das Gesetz exekutieren. Nun also ist "Sitzen verboten" und kostet - "Fine 500 Dollars" - 500 Mark Strafe. Doch erstmals wirkte die Drohung nicht wie gewohnt. Swee Yin Wang sitzt trotzdem auf dem Mäuerchen. Beineschlenkernd unterhält sie sich mit ihren Freunden und wagt es, das neue Schild in ihrem Rücken "totalen Quatsch" zu nennen. Obwohl sie ein Foto von sich in der staatstragenden Zeitung "Straits Times" riskiert. Sünder gegen die öffentliche Ordnung werden in Singapur stets mit Namen, Adresse und Bild veröffentlicht. Aber diesmal erlaubt sich Swee, die blau gewandete Exekutive mit hoch erhobener Hand zu fragen: "Warum kann ich hier nicht sitzen?" Weil die Regierung meint, gammelnde Jugendliche seien ein "Schandfleck". Dieses Argument wurde später ersetzt durch das der Fürsorge des Staates, mit der er seine Bürger vorm Fallen bewahre. "Das Sitzen auf dem Mäuerchen ist gefährlich", schrieb die U-Bahn-Behörde in der Zeitung. Und weil Swee Yin Wang und Konsorten das nicht einsehen, "muß eben die Strafe her". Swees vager Teenagerprotest auf dem Mäuerchen in der U-Bahn-Station Raffles City sorgte tagelang für Schlagzeilen in der Presse und schließlich für eine im staatlichen Fernsehen übertragene Parlamentsdebatte.

So handelt die absolute Autorität einer konfuzianischen Regierung, die immer weiß, was gut für ihre Bürger ist. Nach diesem Muster hat sie 2,7 Millionen Menschen programmiert, die aus der winzigen Insel einen wirtschaftlichen Riesen formten. Singapur ist eine hübsche, saubere und enorm florierende Stadt. Eine Stadt voll propper gekleideter Chinesinnen in zierlichen Kostümen und schwarzen Lackschuhen auf dem Weg zur Arbeit. Ein internationaler Handelsplatz, gespickt mit hochmodernen Büropalästen aus Glas und Stahl. Eine Augenweide an tropischen Parks und üppigen Gärten. Ein Land der Immobilienbesitzer: Über 90 Prozent der Singapurer habe eine Eigentumswohnung. Ein Paradies für Konsumenten: mit luxuriösen Einkaufszentren, noblen Boutiquen, privaten Golfplätzen. Eine Stadt der Erste-Klasse-Hotels, ohne Slums. 250 Mark Strafe kostet öffentliches Spucken. Singapur zahlt direkt nach Japan die höchsten Löhne Asiens.

Es ist ein multikultureller Staat, der seit Jahrzehnten keine rassistische Gewalt mehr kennt: 77 Prozent der Singapurer sind Chinesen, 14 Prozent Malaien und sieben Prozent Inder. Es ist aber auch ein Staat, aus dessen Anspruch auf Vollkommenheit die paranoide Angst vor jedem Hauch Ungehorsam wächst. Da käme Chan Ah Meng nie auf die Idee, zu fragen: "Warum?" Er hat für so was keine Zeit. Chan ist 31 Jahre alt, Chinese, verheiratet, hat einen dreijährigen Sohn und tiefe Ringe unter den Augen. Denn Chan hat zwei Jobs. Die braucht er, um sich seine vielen Wünsche zu erfüllen. "Zunächst eine bessere Stereoanlage", zählt er auf, "dann eine neuen Fernseher und endlich so ein tragbares Satellitentelefon, damit ich immer erreichbar bin." Er runzelt die Stirn, fährt sich mit opulent beringten Fingern durch die kurzen, schwarzen Haare: "Ja, meine Frau will ein Kostüm von Chanel, und der Kleine braucht bald Nachhilfe für die Vorschule". In weiter Ferne wäre da noch "ein Auto, ein Haus mit Garten und Auffahrt und die Mitgliedschaft im Singapore Golf Club". Chan verkauft auf der Jagd nach Statussymbolen einer extrem materialistischen Aufsteigergesellschaft tagsüber köstliche Nudeln in einem klinisch sauberen Imbiß und fährt nachts Taxi. Chan fährt immer bedächtigt und gibt stets auf den Cent korrekt Wechselgeld heraus. Bei jedem Griff zu den Muntermacher-Pillen im Handschuhfach erinnert ihn ein dort festgenageltes Schild an die Gebote seines Arbeitgebers: "Verschwende keine Zeit und Arbeitskraft", "Halte Dich und das Taxi immer sauber", "Maximiere Deine Produktivität" und "Höflichkeit beginnt mit Dir". Auf diese Art hat es Chan Ah Meng schon zu einer stattlichen Drei-Zimmer-Eigentumswohnung in einer der vielen "Neuen Siedlungen" gebracht. Der Staat hat sie gebaut und verkauft die Wohnungen jetzt an seine Bürger - je nach Einkommenskategorie aus öffentlichen Mitteln und gewerkschaftlichen Mitteln subventioniert. Alle müssen dafür Zwangsabgaben, rund ein Viertel ihres Gehalts, in einen Pensionsfond zahlen, mit dessen Milliarden der Staat lukrativ wirtschaftet. Täglich um fünf Uhr nachmittags hastet Chan zu seiner einstündigen Arbeitspause nach Hause in die Trabantenstadt Yishun. Kaum öffnet die Schnellbahn ihre Türen, rennt er los und sucht seinen Weg durch die schmalen Windfänge zwischen gigantischen Häuserblocks. Sie sind dicht gedrängt und absolut identisch. 13 Stockwerke hoch, sparsame Farbe an den Fassaden, rundumlaufende Balkone, eine Langstrecke genormter Briefkästen markiert die Eingänge. Dazwischen leuchtet exakt gezirkeltes Grün, durchfurcht von gepflasterten Wegen, die niemand zu verlassen scheint. Trampelpfade gibt es nicht. Irgend etwas fehlt.

Nicht für Chan Ah Meng. Er fegt gesenkten Blickes an den schnurgeraden Wänden entlang, stürmt in seinen neongrellen Hauseingang, holt den immer funktionierenden Aufzug herab. Der öffnet geräuschlos seine Türen und strahlt in reinem Weiß - das ist es: Nirgends ein einziges Graffiti! Tausende leben hier dicht an dicht. Ihr Rassenproporz ist gesetzlich per Quote geregelt. Die Wohnungsgröße zieht die Einkommensgruppen paritätisch an. An alle Bedürfnisse ist gedacht: Supermarkt, Reinigung, Schuhmacher, Restaurant, Müllschlucker. Das großzügige Gemeindezentrum offeriert Sport und Spiele zu kleinen Preisen. An den Fassaden dieser "schönen neuen Welt" gibt es keinen einzigen gemalten Kommentar. Keinen einzigen gesprühten Protest. Nicht einen gepinselten Wunsch. Genau so hat sich Lee Kuan Yew das vorgestellt. Er ist Singapurs Architekt und war 31 Jahre lang der alles beherrschende Ministerpräsident seines Produkts. Heute wacht er als "Graue Eminenz" im Kabinett seines handverlesenen Nachfolgers Goh Chok Tong über sein Lebenswerk. Er hat Singapur kompromißlos, mit grenzenloser Entschlossenheit und intellektueller Brillianz aus dem Dreck geholt. Lee Kuan Yeh wurde 1923 in eine reiche chinesische Familie der englischen Kronkolonie Singapur geboren. Im Schatten protziger Kolonialbauten lebte damals die Mehrheit des bunt gemischten Volkes in drastischer Armut. Überwiegend Chinesen, aber auch starke Minderheiten von Malaien und Indern sowie Sprengsel aus allen Teilen Asiens schufteten als Kulis auf der Suche nach Glück. Sie be- und entluden Schiffsbäuche voller Gewürze, Gummi, Stoffe, Reis, Kaffee, Erdnüsse und anderer Schätze Asiens, die in Singapur ihren Weg nach Europa antraten. Die Hafenstadt liegt strategisch günstig inmitten der Handelsrouten über die Weltmeere. Auf ihrer Flucht vor der mörderischen Armut im großen China hatten die Einwanderer mitgebracht, was Lee Kuan Yew später voller Abscheu als "gelbe Kultur" geißelte. Sie hat Bugis Street in aller Welt berühmt gemacht. In der winzigen Gasse direkt am alten Hafen tanzten die Schatten der Nacht. Perfekt geschnürte Transvestiten und Prostituierte, sparsam in glitzernde Seide gehüllt, brachten mit schrillen Modeschauen die Matrosen um den Verstand. Die bejohlten vom Dach des uralten Pissoirs den skandalösesten Schlitz im Kleid. Ihre Heuer ging für Ströme billigen Fusels drauf. In stickigen Hinterzimmern blühte das Glücksspiel und der Schmuggel. Imposante Kapitäne, schmierige Händler, steife Engländer und einfache Spinner bevölkerten die chinesischen Bordelle, die schmutzigen Spelunken. Opiumhöhlen verkauften den großen Rausch, bis der Anker gelichtet wurde. Die Schatten der Freiheit in der Bugis Street verkörperte alles, was der keimfreie in England ausgebildete Lee Kuan Yew haßt. In Cambridge errang er ein Jura-Diplom mit dreifacher Auszeichnung. Fortan kombinierte er seine konfuzianische Arbeitsmoral mit der strengen Logik westlicher Wissenschaften. Heraus kam eine absolutistische Staatsräson, gepaart mit einem gnadenlosen Pragmatismus - eine Mixtur, die fest auf die rein technische Steuerungsfähigkeit der Masse Mensch ausgerichtet ist.

Die Gesellschaft, die Lee Kuan Yew aus dem Chaos prägen wollte, sollte "schlank und hemdsärmelig" sein, diktierte er seinem Biographen. 1959 wurde er - mit 36 Jahren - Singapurs Premierminister und legte los. Lee Kuan Yew sperrte die Kommunisten ein, kastrierte die Gewerkschaften, trickste die Opposition aus, kontrolierte die Löhne. Doch auch mit dieser "neuen Ordnung" gehörte ihm immer noch nicht viel mehr als ein 620 Quadratkilometer großer Fels in der Brandung. In dessen schlammigen Sümpfen waren keine Rohstoffe verborgen, gab es nicht genügend Trinkwasser, und Lebensmittel mußten größtenteils importiert werden. So setzte Lee Kuan Yew mangels anderer Ressourcen auf das einzige Pferd im Stall: die Optimierung der menschlichen Arbeitskraft. Zu diesem Zweck wurden die Singapurer das Ziel endloser staatlicher Kampagnen. In den Schulen und am Arbeitsplatz, in der U-Bahn und auf der Straße, in Restaurants und am Strand, schlichtweg überall rollten Feldzüge für Produktivität und gegen Spucken, Rauchen und "unchinesisches" Kaugummikauen. Über alle Medien regnete es Kampagnen für eine exzellente Arbeitsmoral und gegen zu lange Haare, spätes Heiraten, Schwatzen im Dienst und die Nichtbenutzung der Toilettenspülung. Bugis Street wurde abgerissen. Singapurs bekannteste Strraße ist heute die noble Orchard Road. Entlang der palmengesäumten Flaniermeile im Stadtzentrum vereinen sich alle internationalen Modeschöpfer mit dem übergoldeten Glanz zahlloser Shmuckhändler und dem neuesten Schrei der High-Tech-Industrie. Hier würde kein konsumwütiger Singapurer und auch kein tütenbeladener Tourist es wagen, eine Zigarettenkippe ins blitzsaubere Ambiente zu werfen. Zwischen den Schaufenstern weisen alle paar Meter Schilder darauf hin, daß solches Barbarentum 200 Mark Strafe kostet. Wenn Swee Yin Wang am Wochenende mit ihrem Freund in die Discos des "Orchard Towers" rauscht, glotzen im Aufzug Kameras von der Decke, ob unterwegs auch keiner pinkelt oder randaliert. Sonst nämlich bleiben die Türen zu, bis die Exekutive eintrifft. Und zu Hause in der Siedlung Yishun hat Chan Ah Meng ein wachsames Auge auf seine Geranien. Droht seine Regierung doch allen Ernstes mit der gerichtlichen Verfolgung derjenigen, die ihre Blumentöpfe zu reichlich mit moskitofreundlichem Wasser begießen. Auf diese Art hat Singapur nicht nur den Kampf gegen die Malaria gewonnen. In nur 30 Jahren wurde das koloniale Armenhaus zum reichsten Staat der Region. Investoren aus aller Welt schätzten die hohe Arbeitsmoral und den strikten Gehorsam der Singapurer. In frappierender Offenheit wird Lee Kuan Yews Roßkur "social engineering" und "nation builing" genannt.. Die "angewandte Sozialwissenschaft" dient der Formung und Normung einer Gesellschaft, die keine homogene kulturelle Grundlage besitzt. Alle Einwanderer der Kronkolonie kamen aus den jeweils unteren sozialen Schichten ihrer Herkunftsländer.

Tan zum Beispiel wurde vor über 70 Jahren im Chinesenviertel Tanjong Pagar geboren. Zwischen schmuddeligen, überfüllten Häuserblocks lernte er die Gossenweisheit der Händlerlebens: "Ein bißchen lesen, gut rechnen, viel handeln und kräftig spucken". In den schmalen, zweistöckigen Häuschen lebten, arbeiteten und wohnten die Generationen seit Jahrhunderten unter einem Dach: Unten war der Laden, in der mittleren Etage standen die Betten, unterm Dach wurde gelagert, im Hinterhof gekocht. "Allerdings", erinnert sich Tan mit gekräuselter Nase, lag über all dem "ein kräftiger Geruch". Er entströmte dem fauligem Abfall, parfümiert von der Sitte, auf die Gasse zu pinkeln - bis Lee Kuan Yew mit seinen Kapagnen und der Prügelstrafe kam. "Da wurde Tanjong Pagar sauber", nickt Tan anerkennend. In seinem Eisenwarenladen klackerte damals der Abakus, während sein Sohn Chia Kee Soon auf der Universität seine Karriere vorbereitete. (Leise lächelnd ließ Tan einmal vor meinen Augen die Holzkugel der alten chinesischen Rechenmaschine gegen Kees Computer antreten. Und gewann natürlich.) Schon damals hatte Tan ein ansehnliches Bankkonto angehäuft, was man weder seinem sspartanisch eingerichteten Häuschen noch seinem abgearbeiteten Körper ansah. In weiten chinesischen Hosen und Unterhemd hockte er im Schneidersitz von früh bis spät in seinem Laden, trank heißen, bittergrünen Tee und sagte: "Flöhe im Kopf" zu der Designer-Krawatte und den englischen Marken-Schuhen seines Sohnes. Eines Tages forderte die Regierung Tan auf, Tanjong Pagar zu räumen. Das Viertel sollte renoviert werden. Zwischen der himmelstürmenden Welt des Big Business wollte die Regierung das letzte Stück der "alten, echten Kultur Singapurs retten". Nicht klaglos, aber geräuschlos und gehorsam zog Tan aus. Seine Regierung verschaffte im eine adrette Wohnung in einer "Neuen Siedlung". Dort hockt Tan nun im Schneidersitz auf einem dunkelblauen Kunstledersofa und guckt sich chinesische Seifenopern im Fernsehen an. Er lebt spartanisch wie eh und je und geht manchmal zum Schattenboxen ins Gemeindezentrum.

Sein Sohn Kee hat inzwischen eine Werbeagentur etabliert in einem bonbonfarbenen Block, in die Tanjong Pagar verwandelt wurde. "Irgendwie ist es schade", sagt Kee, mit schmalen Lippen an seinem Bürofenster stehend. In den alten Arkaden haben sich exklusive Boutiquen und Sozietäten mit perfekt getarnter Klimaanlage hinter dezenter Neonreklame breitgemacht. "Aber nun ist es wohl nicht mehr zu ändern." Er sei "aus Sentimentalität" nach Tanjong Pagar zurückgekehrt, sagt Kee beim Mittagessen im "Pasta Brava", dem italienischen "In"-Lokal. Dreimal fiept sein Piepser während des Essens. Die Vorspeise wird kalt, das Salimbocca kommt unter einen Deckel, dann schaltet Kee das Ding endgültig aus. Er ist heute nicht in der Stimmung, wichtig zu sein. Er geht sogar soweit, seine Mittagspause auszudehnen, und fährt mit mir nach Alkaff Mansion. Die europäische Villa aus der Jahrhundertwende thront auf einem herausgeputzten Hügel hoch über Singapur. Unter den hohen Bäumen räsoniert Kee über seine Bilderbuchkarriere. Er erinnert sich an die Vorschule, wo die Bilderbücher voller Zahlen und Buchstaben waren. Er denkt an seine Mutter, die ihn mit Französischunterricht und Klavierstunden im Alter von fünf Jahren zu etwas Besseren anspornte. Er haßt noch heute den Nachhilfelehrer, der ihn auf das beste College des Landes paukte. Kee hat die Begrüßungsworte der Schuldirektorin nie vergessen. "Das National Junior College wurde von Lee Kuan Yew gegründet, um brilliante junge Leute zu künftigen Führern auszubilden", sagte sie: "Zum totalen Menschen." Der "totale Mensch" Kee haut heute, nach einem tadelosen Studium und dem Aufbau eines profitablen Unternehmens, auf den Tisch von Alkaff Mansion, daß die Tassen scheppern, und zischt: "In dieses Land setzte ich keine Kinder." Der Mango-Pudding auf seiner Gabel zittert unter dem Affront gegen seine Regierung, seine chinesische Erziehung und die Zukunft seines Landes. Alle Nachbarn gucken. Kee entschuldigt sich lächelnd und fährt mit leiser Stimme fort: "Hier herrscht ein Leistungsdruck, der schon Kinder zu Sklaven macht und wenn sie nicht mithalten, werden sie zu Versagern gestempelt und gehen unter."

Seit Jahren liegt die Geburtenrate, vor allem bei den bessergestellten Chinesen, weit unter der Reproduktionsquote. Weil aber in der "schönen neuen Welt" nichts dem Zufall überlassen bleibt, gibt es seit 1984 ein vollcomputerisiertes staatliches Eheanbahnungs-Programm. "Unsere Regierung möchte die jungen Leute ermuntern früh zu heiraten und früh Kinder zu produziern", erläutert Lee Chiong Giam, Oberster Direktor der staatlichen People's Association. Unter deren Aufsicht bietet die "Einheit für soziale Entwicklung" ihr Programm "Eine Partie für jedermann" an. Ermuntert werden allerdings nur Freiwillige im Alter zwischen 20 und 35 Jahren. Bislang ließen 60.000 Singapurer ihre persönlichen Daten speichern. Der Computer sortiert sie sorgsam nach Intelligenzklassen. So werden die Ledigen nach Schulabschlüssen qualifiziert und zu romantischen Bootsfahrten am Wochenende, lauschigen Partys in Hotelsälen und entspannenden Tee-Treff in Parkanlagen eingeladen. "Wir bringen junge Leute mit gleichen Interessen zusammen", wirbt Mister Lee. "Ein Junge und ein Mädchen im selben Boot, hoffentlich rudern sie zusammen zum Standesamt." Rund 13.000 Paare haben seinen Wunsch schon erfüllt. Trotz alledem gibt es irritierende Zeichen, daß die "angewandte Sozialwissenschaft" womöglich in eine Sackgasse führt. Am Nationalfeiertag 1989 sprach Lee Kuan Yew mit Tränen in den Augen von den über 4.000 Familien aus der höchstqualifizierten und bestgestellten Gesellschaftsschicht, die pro Jahr Singapur den Rücken kehren. Was Lee, zutiefst verletzt, als Flucht vor der Leistungsgesellschaft tadelt, interpretieren manche als Abkehr von kalter Perfektion, als schlichte Sehnsucht nach der ominösen Luft geistiger Freiheit. Lee Kuan Yew versteht die sanften Revoluzzer nicht, die sein Erfolg produziert hat. Chia Kee Soon, Swee Yin Wang, die junge, brillante Elite der perfekt organisierten Wohlstandsgesellschaft, die nun, da Lees Gesellschaftsexperiment alle Singapurer gefüttert, behaust und beschäftigt hat, wissen will, "warum" und "wozu". Die erste Frage beantwortet Lee mit einer stereotypen Predigt: "Singapur muß immer die Nummer 1 sein." Der beste Flughafen der Welt, der beste Hafen, die beste U-Bahn, das beste Wohnungsbauprogramm. Nur so kann die reiche Insel in einem Meer der Armut über Wasser bleiben. Lee Kuan Yew ist besessen von der Angst, sein Lebenswerk könnte vom dampfenden Dschungel der bevölkerunsreichen Nachbarn Malaysia und Indonesien verschluckt werden. Deshalb hält Lee Kuan Yew an der Macht fest, um über Singapur zu wachen. Als er im November 1990 den Posten des Premierministers seinem Schüler Goh Chok Tong übergab, setzte er vorausschauend einer Verfassungsreform durch, die einen extrem mächtigen Präsidenten mit Vetorechten in allen wichtigen Fragen inthronisiert. Ein maßgeschneidertes Amt für den designierten Kandidaten: Lee Kuan Yew Die Frage nach der kulturellen Identität seiner Nation beantwortet Lee mit "Sprecht Mandarin"-Kampagnen. Ohne gute Noten in der schwierigen Sprache des einstigen Pekinger Hofes darf kein chinesischer Singapurer eine höhere Schule, geschweige denn die Universität besuchen. Die komplizierte Sprache der kaiserlichen Bonzen und Gelehrten soll den Enkeln des Kulis nachträglich und künstlich die höheren Weihen der chinesischen Kultur vermitteln. Mandarin soll die Singapurer auf die 2.500 Jahre alte aristokratische Sittenlehre des Konfuzius verpflichten: harte Arbeit, Disziplin, Genügsamkeit und Respekt vor Obrigkeit und Staatsphilosophie räumt der Gemeinschaft absoluten Vorrang vor dem einzelnen ein. Gesetze haben zuallererst die staatliche Ordnung zu schützen, zuletzt die Rechte von Swee Yin Wang, Chia Kee Soon und Czhan Ah Meng. Ein idealer Impfstofff auch gegen die gefährlichen Einflüsse der 300.000 Ausländer in Singapur.

Deren kritischer, vorlauter Geist wird als dekadent und subversiv geschmäht - und ist am Ende über Cola und McDonald`s hinaus fürchterlich ansteckend. "Freiheit bedeutet für Chinesen die Freiheit, möglichst viel Geld zu verdienen", lächelt ein wohlbestallter Banker auf der schicken Party eines bekannten Architekten. Der Gastgeber ist ein Chinese und hat in England studiert. Er bewohnt ein Penthouse im 32. Stock eines Apartmenthauses an der Bay Shore Park Road. Moderne Kunst vom Montmartre ziert die Wände neben englischen Stichen aus der Zeit Queen Victorias. Es gibt italienisches Essen und deutsche Klassik. Alle Gäste parlieren englisch. Die staatlich verordnete Schizophrenie hat offenbar nicht überall geklappt. Im Berufsleben treten die Singapurer als englischsprachige Rationalisten auf. Aber in ihrer Freizeit schalten sie nicht, wie verlangt, auf die chinesisch-konfuzianischen Traditionen um. "Ich glaube", sagt Catherine Lim, eine bekannte chinesische Autorin, die englisch schreibt, "daß es mehr und mehr Singapurer gibt, die beteiligt werden wollen, die frei sein wollen und eine Stimme verlangen, die sprechen darf. "Aber, so mahnt sie, "ich glaube auch , daß hier die Freiheit, seine Meinung offen zu sagen, grundsätzlich nur innerhalb eines bestimmten, selbstverständlichen Rahmens möglich ist. Anders als in Europa. Begrenzt, nehme ich an, durch Verantwortung." Auch Brigadegeneral George Yeo, Minister für Information und Kunst, hat eine technokratische Begründung für seinen Wunsch nach einer "vorsichtigen" Demokratisierung Singapurs. In seinem nüchtern-modernen Büro im 39. Stock des Raffles City Towers doziert er: "Wenn man den Kreis der Beteiligten nicht erweitert, schalten sich die Hirne ab. Das ist schlecht für unsere wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit." Infolgeedessen lanciert Yeos Amt das offizielle nächste Entwicklungsziel: "Hinwendung zu einer anmutigen, kultivierteren Gesellschaft". Ein Kulturminister, für den Kultur ein Mittel zum Zweck ist. Konsequent erschöpft sich Yeos aufwendige Kulturkampagne in klassischen Konzerten, Vernissagen aparter Malerei, ein bißchen Theater, traditionellem Ballett. Es ist Folklore ohne Kampf, ohne Krampf, ohne Widerspruch und ohne Spiegel. Perfekt bedeutungslos, wie Bugis Street ohne Schatten der Freiheit. Nachdem die renommierte britische Zeitschrift "The Economist" Singapur als "das langweiligste Land der Welt" bezeichnet hat, ist die Traditionsgasse nun also wieder auferstanden. "Perfekt rekonstruiert", einschließlich Pissoir, doch inzwischen "garantiert familienfreundlich". Die Garde der modernen Konfuzianern fürchtet sich. Am unstreitbaren Erfolg ihrer "angewandten Sozialwissenschaft" klebt der Fluch jeder streng vertikal strukturierten Gesellschaft, der Fluch einer rasenden Angst, daß mit nur einer undichten Stelle das ganze Gebäude einstürzen werde. Alles oder nichts. In ihren Alpträumen sehen sie Swee Yin Wang in der U-Bahn-Station Raffles City auf der Mauer, auf der Lauer." (
Bericht von Karin Deckenbach, GEO-SPECIAL Oktober 1992)

Jetzt ist es 15 Jahre spaeter und ich kann das alles nur bestaetigen. Und: Es geht in rasanten Schritten weiter ...

2 Comments:

Anonymous Anonym said...

Was gibt es als Preis, wenn man alles gelesen hat?

13. April 2007 um 22:21  
Blogger Jenny said...

Je nach Wunsch bitte ankreuzen:
o ein Bienchen
o eine persönliche Postkarte
o eine individuelle Stadtführung

15. April 2007 um 12:53  

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